Veröffentlichung BayMBl. 2022 Nr. 386 vom 29.06.2022

Veröffentlichendes Ressort

Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration

Download

Hash-Prüfsumme der PDF-Datei BayMBl(sha256): 84A2C68BADFDE86FD43C1595A7AF4361825C8A3B8887A0EBF815E3E73D2A5619

Verwaltungsvorschrift

2012.1-I
  • Verwaltung
  • Allgemeines Verwaltungsrecht
  • Polizeirecht
  • Allgemeines Polizeirecht

2012.1-I

Anwendung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 des Polizeiaufgabengesetzes

Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration

vom 17. Juni 2022, Az. C2-2808-4-40

Präsidien der Bayerischen Landespolizei
Präsidium der Bayerischen Bereitschaftspolizei

nachrichtlich
Bayerisches Landeskriminalamt
Bayerisches Polizeiverwaltungsamt
Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, Fachbereich Polizei

Bei Durchführung einer Identitätsfeststellung nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) (sogenannte Schleierfahndung) ist rechtlich Folgendes zu beachten:

1.Anforderungen

1.1
1Die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) sieht in den Art. 1 und 22 – vorbehaltlich einer vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach Maßgabe der Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex – vor, dass die Binnengrenzen an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden dürfen. 2Der Verordnungsgeber hat in Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex gleichzeitig ausdrücklich normiert, dass das Ausbleiben von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittkontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. 3Die Ausübung der polizeilichen Befugnisse darf insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittkontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen
a)
keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;
b)
auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;
c)
in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;
d)
auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.
1.2
1Als Ausgleich für die Öffnung der Grenzen und den Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen erfolgt eine verstärkte Fahndungstätigkeit auf den Routen und in den Einrichtungen des internationalen Verkehrs im Binnenland. 2Eine Identitätsfeststellung nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG ist erlaubt im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km sowie auf Durchgangsstraßen (Bundesautobahnen, Europastraßen und andere Straßen von erheblicher Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr) und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs bei Vorliegen entsprechender Lageerkenntnisse zur Verhütung oder Unterbindung des unerlaubten Aufenthalts und zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. 3Die praktische Anwendung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG muss sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden und darf nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittkontrollen haben. 4Mit den nachfolgenden Kriterien soll gewährleistet werden, dass die Anforderungen des Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex beachtet werden durch Lenkung der Intensität, der Häufigkeit und der Selektivität der Kontrollen.
1.3
Zur Vermeidung von Mehrfachkontrollen erfolgt eine Abstimmung mit anderen Behörden, wie zum Beispiel der Bundespolizei, beziehungsweise die Durchführung im Rahmen gemeinsamer Einsatz- oder Kooperationsformen.

2.Selektivität

2.1
1Die Kontrollen beruhen – in Abgrenzung zu allgemeinen Grenzkontrollen – auf einer einzelfallbezogenen Auswahl und weisen keinen systematischen Charakter auf. 2Sie knüpfen nicht an den Grenzübertritt an. 3Sie erfolgen zudem nicht anhand von phänotypischen Merkmalen.
2.2
1Die Kontrollen erfolgen auf der Grundlage von polizeilichen Informationen und Erfahrungen, die aktuell aus der verbands- sowie bayernweiten Lageerhebung und Lageauswertung oder von anderen Behörden gewonnen werden. 2Polizeiliche Informationen über die grenzüberschreitende Kriminalität ergeben sich insbesondere aus
a)
Lageerkenntnissen, die aktuell aus der verbands- sowie bayernweiten Lageerhebung und Lageauswertung gewonnen werden; hierunter fallen unter anderem Informationen über
  • grenzüberschreitende Verkehrsströme (zum Beispiel Transitstrecken für Kfz-Verschiebungen und Drogenkuriere, Umgehungs- und Ausweichstrecken), häufig genutzte Fahrzeuge oder andere Verkehrsmittel (zum Beispiel bevorzugte Fahrzeugtypen für bestimmte Kriminalitätsbereiche),
  • kriminalgeographische Räume (Beziehung, die zwischen der spezifischen Struktur eines Raumes und der in ihm örtlich und zeitlich anfallenden Kriminalität besteht),
  • Begehungsweisen von Straftaten und Vorgehensweisen von Straftätern,
b)
anlassbezogenem und institutionalisiertem Lage- und Informationsaustausch auf Landes- und Bundesebene sowie den europäischen und internationalen Polizei- und Sicherheitsbehörden; der tat- und täterbezogene Lageaustausch umfasst auch die Mitteilung von verdächtigen Wahrnehmungen und fahndungsrelevanten Sachverhalten.

3Aus der Auswertung der Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität lassen sich wesentliche Erkenntnisse zur Durchführung von Kontrollen, insbesondere zur Auswahl der Örtlichkeiten, der Kontrollzeiten und des taktischen Vorgehens gewinnen. 4Das Fahndungsverhalten wird so taktisch-flexibel an signifikante Veränderungen in den verschiedenen Kriminalitätsbereichen angepasst.

2.3
1Neben polizeilichen Informationen über die grenzüberschreitende Kriminalität kommt der polizeilichen Erfahrung eine große Bedeutung zu. 2Diese ergibt sich insbesondere aus
  • den Umständen des Antreffens einer Person,
  • bestimmten Verhaltensweisen einer Person,
  • anderen (gefahren-)verdachtsbegründenden Erkenntnissen, wie zum Beispiel aus dem Zustand, der Besetzung oder den Besonderheiten eines Fahrzeugs oder eines anderen Verkehrsmittels oder der mitgeführten Sachen einer Person.

3.Intensität und Häufigkeit

3.1
Bei den Kontrollen erfolgt unter Einbeziehung der polizeilichen Informationen und Erfahrungen eine Auswahl der Kontrollorte, der Kontrollzeiten, der zu kontrollierenden Personen und Fahrzeuge oder anderer Verkehrsmittel.
3.2
Eine effektive Beschränkung der Intensität und Häufigkeit wird gewährleistet, indem die Kontrollen
  • Iageangepasst und taktisch-flexibel,
  • temporär und nicht auf Dauer angelegt,
  • unregelmäßig,
  • an unterschiedlichen Orten,
  • zu unterschiedlichen Zeiten,
  • stichprobenartig

erfolgen.

4.Inkrafttreten, Außerkrafttreten

Diese Bekanntmachung tritt am 30. Juni 2022 in Kraft und mit Ablauf des 29. Juni 2027 außer Kraft.

Karl Michael Scheufele

Ministerialdirektor