Fundstelle GVBl. 2020 S. 558

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Gerichtsentscheidung

2012-2-1-I, 2012-1-1-I

Bekanntmachung der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs

vom 28. August 2020 Vf. 10-VIII-19; Vf. 12-VII-19

Gemäß Art. 25 Abs. 7 des Gesetzes über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof (VfGHG) vom 10. Mai 1990 (GVBl. S. 122, BayRS 1103-1-I), das zuletzt durch Art. 73a Abs. 1 des Gesetzes vom 22. März 2018 (GVBl. S. 118) geändert worden ist, wird nachstehend die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 28. August 2020 bekannt gemacht.

Die Entscheidung betrifft die Frage, ob

Art. 5 Polizeiorganisationsgesetz (POG) und Art. 29 Polizeiaufgabengesetz (PAG)

gegen die Bayerische Verfassung verstoßen.

Entscheidungsformel:

1.Art. 29 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl. S. 397, BayRS 2012-1-1-I), das zuletzt durch § 1 des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 (GVBl. S. 691) geändert worden ist, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV (Rechtsstaatsprinzip) und Art. 101 BV (allgemeine Handlungsfreiheit) und ist nichtig.

2.Im Übrigen wird der Antrag im Verfahren Vf. 12-VII-19 abgewiesen. Der Antrag im Verfahren Vf. 10-VIII-19 wird insgesamt abgewiesen.

Leitsätze:

1.Eine Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV, Art. 49 Abs. 1 VfGHG darüber, ob durch ein Gesetz die Verfassung verletzt wird, muss bereits im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens hinsichtlich der beanstandeten gesetzlichen Vorschrift und der als verletzt erachteten Verfassungsnorm erkennbar geworden sein. Dafür genügt eine ablehnende Abstimmung im Bayerischen Landtag für sich allein nicht.

2.Der Zulässigkeit einer Meinungsverschiedenheit steht nicht entgegen, dass die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift auf eine Unvereinbarkeit mit der Kompetenzordnung des Grundgesetzes gestützt wird. Denn ein solcher Verstoß kann eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips der Bayerischen Verfassung (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) darstellen.

3.Im Rahmen einer Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 VfGHG kann die Rüge eines möglichen Grundrechtseingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) damit begründet werden, die angegriffene Vorschrift sei wegen eines Verstoßes gegen objektives Verfassungsrecht (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) unwirksam.

4.Art. 5 POG verstößt nicht wegen einer Verletzung der in Art. 83, 87 Abs. 1 Satz 2 GG normierten Kompetenzverteilung im Bereich der Exekutive (Bundesgrenzschutz) gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV).

a)Die Aufgabe des grenzpolizeilichen Fahndungsdienstes (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 POG, Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG, sog. Schleierfahndung) ist unbestritten eine Aufgabe des Landes. Zur Erfüllung dieser Aufgabe kann eine Bayerische Grenzpolizei als Teil der Landespolizei errichtet werden.

b)Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 POG weist der Bayerischen Grenzpolizei die in Art. 5 Abs. 2 POG genannten grenzpolizeilichen Aufgaben nur insoweit zu, als ihr aufgrund einer Vereinbarung nach § 2 Abs. 1, 3 BPolG oder auf der Grundlage des § 64 BPolG eine Zuständigkeit eröffnet ist. Dies lässt einen Widerspruch zur Wahrnehmung des Grenzschutzes durch die Bundespolizei in bundeseigener Verwaltung nicht erkennen.

5.Art. 29 PAG regelt unter Verletzung der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG materielles Grenzschutzrecht. Eine Ermächtigung des Landesgesetzgebers gemäß Art. 71 GG kann aus § 2 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 BPolG nicht abgeleitet werden. Da es sich seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2018 (1 BvR 142/15) um einen offensichtlichen und zudem um einen schwerwiegenden Eingriff in die Kompetenzordnung des Grundgesetzes handelt, wird hierdurch gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) und das Grundrecht der Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) verstoßen.

München, den 28. August 2020

Bayerischer Verfassungsgerichtshofs

Peter Küspert, Präsident